Oberbilk – eine Welt aus vielen Kulturen

Von Helmut Schneider

„Oberbilk war die Welt … dieses Fleckchen Erde, das jahrhundertelang als Ödnis unter einem offenen Himmel lag, Sand und Gesträuch, einsames Gehölz und unbekannte Wege zwischen Morgen- und Abenddämmerung, Sonnen- und Regentagen, bis in einem Schöpfungsakt von wenigen Jahren aus diesem stillen, gottvergessenen Brachland ein vibrierender, feuerspeiender, ohrenbetäubender Ort entstand …“. Auf geradezu poetische Weise beschreibt Dieter Forte, der in Oberbilk geborene und aufgewachsene, im Jahr 2019 in Basel verstorbene Schriftsteller in seinem Roman „Das Muster“ (1992 als erster Band seiner „Tetralogie der Erinnerung“ erschienen) die Entstehung des ersten Industrie- und Arbeiterviertels Düsseldorfs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Für die damalige wirtschaftliche Entwicklung Düsseldorfs waren die Lage zwischen den schon früh von der Textilindustrie geprägten Städten Elberfeld und Barmen an der Wupper sowie dem Rhein als Verkehrsweg und die Nähe zu den Kohlezechen im Ruhrgebiet ausschlaggebend. Oberbilk bot für die Ansiedlung von Industriebetrieben ausgesprochen günstige Standortvoraussetzungen: Die Trassen der ersten westdeutschen Eisenbahnlinie von Düsseldorf nach Erkrath (1838) und Elberfeld (1841) sowie der Köln-Mindener Bahn (1845) verliefen durch den Stadtteil. Den Fabriken in Oberbilk bot sich damit die Möglichkeit eigener Gleisanschlüsse zum An- und Abtransport von Gütern. Am damaligen Rand des dicht bebauten Stadtgebiets bestand zudem kein Mangel an sofort verfügbaren freien Flächen. Leitbranche der Industrialisierung war die Eisen- und Stahlindustrie.

Die ersten Industrieunternehmer kamen allerdings nicht aus Düsseldorf, in der ehemaligen Residenz- und Verwaltungsstadt gab es keine nennenswerte Tradition des produzierenden Gewerbes. Unternehmer wie der aus Wallonien stammende Jaques Piedboeuf oder die aus der Eifel stammende Familie Poensgen, zu der auch der spätere Gründer des Oberbilker Stahlwerks Carl Poensgen gehörte, brachten deswegen nicht nur Ingenieure und Techniker, sondern auch ihre Facharbeiter mit. Arbeitskräfte kamen aber auch von weiter her, aus Irland, England, Frankreich, Holland oder Polen. Arbeitersiedlungen entstanden in unmittelbarer Nähe der Fabriken, denn die Arbeitsstätten mussten fußläufig erreichbar sein. Diese kleinräumige Verzahnung von Arbeiten und Wohnen wirkt sich bis heute prägend auf die bauliche Struktur des Stadtteils aus. Zwar sind die Fabriken längst verschwunden und neuen Nutzungen gewichen, aber die Wohnbebauung hat sich vielfach an den früheren Standorten erhalten. So erinnert z.B. die Eifeler Straße noch an die Herkunft vieler Arbeitskräfte, die in den Fabriken der Poensgens an der Kölner Straße beschäftigt waren. Die aus unterschiedlichen Herkunftsregionen stammenden Arbeiter brachten ihre je eigene Sprache, Religion und Lebensart mit, sie pflegten ihre eigenen Feiertage und kulinarischen Vorlieben. Es entstand, um noch einmal Dieter Forte zu zitieren „eine vielsprachige, fremdartige, künstlich geschaffene neue Welt aus vielerlei Kulturen, eng zusammenlebend, den Gesetzen der Produktion folgend …“. 1885 war die Einwohnerzahl Oberbilks bereits auf 11.800 angestiegen, und mit ca. 32.000 erreichte sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ihren Höchststand.
Ein gravierender Strukturwandel, der zum nahezu vollständigen Verschwinden der In-dustrie und zum Aufstieg eines neuen Dienstleistungssektors in Oberbilk führen sollte, setzte dann in den 1960er Jahren ein und verstärkte sich in den 1970er Jahren. Aber bis dahin hatte sich die industrielle Struktur des Stadtteils nicht wesentlich verändert. Zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Nachkriegsboom mussten für die Fabriken in Oberbilk ausländische Arbeitskräfte angeworben werden. Die jetzt „Gastarbeiter“ genannten Arbeitskräfte, von denen wie ein Jahrhundert zuvor viele auf Dauer bleiben sollten, kamen nun aus Italien, Spanien und Griechenland, später aus Jugoslawien und der Türkei. Viele kamen auf der Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen aus noch entfernteren Regionen, andere mussten als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen und fanden in Oberbilk ein neues Zuhause. Heute leben im Stadtteil Oberbilk wieder rund 30.000 Menschen. Davon haben fast 56 % eine Migrationsgeschichte, weitaus mehr als im gesamtstädtischen Durchschnitt (knapp 42 %, Stand Ende 2018).
Dieter Fortes Beschreibung einer „neuen Welt aus vielerlei Kulturen“, die in Oberbilk mit der Industrialisierung entstanden war, lässt sich ebenso gut auf die heutige Bevölkerungsstruktur beziehen – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Das verbindende Element der gemeinsamen, durch die Arbeit in den Fabriken des Stadtteils geprägten Lebensweise ist heute verschwunden. Die Unterschiede zwischen den „vielerlei Kulturen“ werden sichtbarer und auch anders erlebt. Für das Zusammenleben im Quartier stellen sich damit neue Herausforderungen.

Oberbilks Geschichte hat gezeigt, dass ein zwar nicht immer konfliktfreies, aber von gegenseitiger Toleranz geprägtes Miteinander in Verschiedenheit gelingen kann. Diese historische Erfahrung erlaubt es, auch der Zukunft des Stadtteils mit Zuversicht entgegen zu sehen.

Erschienen in: 40/zwozwo/7 – Das Stadtteilmagazin der SPD-Oberbilk, 4/2020, aktualisiert 20.8. 2020